europaDie Organisation von Kindern und Jugendlichen in fest strukturierten Gruppen auch innerhalb der Arbeiterjugendbewegung scheint so selbstverständlich zu sein, dass eine grundlegende historische Betrachtung des Phänomens der Gruppe – so weit zu sehen ist – bislang nicht vorliegt. Stellenwert und Rolle der Gruppe haben sowohl in der Geschichtsschreibung zur sozialistischen Jugendbewegung (Arbeiterjugendbewegung, Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde und Sozialistische Jugend Deutschlands »Die Falken«) als auch in den vorliegenden Schriften zur Theorie und Praxis der sozialistischen Jugendarbeit nur im Zusammenhang spezifischer Fragestellungen eine Reflexion oder Kommentierung erfahren. Beispiele dafür sind Themen, wie sie etwa die Gruppenarbeit oder die Zeltlagerpädagogik betreffen, um nur diese zu nennen. Der dabei benutzte Begriff der Gruppe schien über die Zeiten hinweg unverändert zu sein.

Demgegenüber unternimmt es die Archivtagung 2012, der historischen Dimension der Gruppe nachzuspüren. Wir wollen herausfinden, was das spezifische einer Jugendgruppe – und einer Gruppe eines Jugendverbandes – im Vergleich zu anderen Formen sozialer Organisation ist, welche Erwartungen und Hoffnungen sich an die Entstehung und die Arbeit von Gruppen knüpften, welche Funktionen sie hatten und wie sie das Leben ihrer Mitglieder prägten. Die Tagung wird eine historische Spurensuche sein, an der alle, die einmal Mitglied einer Gruppe waren, eingeladen sind, sich zu beteiligen. Nicht nur Falken sollen sich davon angesprochen fühlen: Wir wollen auch den Vergleich zu den Gruppen anderer Jugendverbände suchen. Der nachstehende Text soll erste Hinweise geben, welche Spuren es zu entdecken gibt und welche Fragen dabei Behandlung finden können.  


Erste Spurenaufnahme: Thesen zur Geschichte der Gruppe

Tatsächlich legen auch die Falken unserer Tage großen Wert auf die Gruppen ihres Verbandes, wie die Kampagne »Die Gruppe macht’s« zeigt, die aktuell von der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken durchgeführt wird. Diese Betonung der Gruppe steht ganz offensichtlich im Gegensatz zu den zur Zeit vorherrschenden Leitbildern in unserer Gesellschaft, nach denen jeder Mensch eine Art »Ich-AG« darstellt, abgetrennt vom Mitmenschen, diesen innerlich kaum verstehend und mit ihm gerade noch durch biologische Gemeinsamkeiten und einige Nützlichkeitserwägungen verbunden.

Dieser Hochkonjunktur eines überzogenen Individualismus, der seine Wurzeln in den Interessen der gegenwärtig sozial und wirtschaftlich herrschenden »Eliten« hat, setzt die sozialistische Jugendbewegung auf ihrem Tätigkeitsgebiet eine Haltung entgegen, der zufolge Kinder und Jugendliche als Glieder einer Gemeinschaft begriffen werden – einer Gruppe eben. Sicherlich handelt es sich auch bei den Kindern und Jugendlichen, die an jedem Morgen zur selben Zeit an einer bestimmten S-Bahn-Station stehen und auf den Zug warten, der sie zu ihren jeweils verschiedenen Schulen bringen soll, alltagssprachlich um eine gewisse Art von Gruppe. Auch die Jugendlichen, die beispielsweise gemeinsam einem speziellen Mode- und Verhaltenstrend anhängen und daher regelmäßig die exakt zu ihrem Style passende Diskothek besuchen, bilden für den vorwissenschaftlichen Sprachgebrauch eine, wenngleich informelle, Gruppe.

Was in der Arbeiterjugendbewegung als Gruppe gemeint ist, geht aber über dieses weit gefasste Gruppenverständnis hinaus. Die Gruppen der Arbeiterjugendbewegung erscheinen fest strukturiert. Sie besitzen Leiter oder Helfer. Die Mitgliedschaft in der Gruppe beruht auf einem förmlichen Beitritt, meist auch auf entrichteten Mitgliedsbeiträgen, und ist oft an äußeren Zeichen erkennbar. Die Gruppe trifft sich regelmäßig und verbindlich einmal oder mehrmals in der Woche und verfügt idealer Weise über einen festen, selbst gestalteten Treffpunkt. Die Größe der Gruppe ist überschaubar (ca. 10 bis 30 aktive Mitglieder). Die Gruppe ist nach dem Wohnortprinzip organisiert. Überschaubarkeit und gemeinsamer Wohnort oder Stadtteil stärken den Zusammenhalt. Die Gruppe fühlt sich als Teil einer größeren Bewegung und kommt ihren Verpflichtungen gegenüber der Gesamtbewegung nach. Ihre Tätigkeit orientiert sich nicht nur an den aktuellen Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen, sondern auch an den pädagogischen und politischen Vorgaben und Zielen des Verbandes. Erziehung und Selbsterziehung, Freude und Spiel, Freundschaft und Solidarität, allgemeine und politische Bildung sowie die Mitwirkung an den Kämpfen der Zeit gehören zum Selbstverständnis der Gruppen der Arbeiterjugendbewegung.


Auf der Archivtagung 2012 soll geprüft werden, ob und wie dieses Bild von der Existenz fest strukturierter Gruppen der Arbeiterjugendbewegung mit der geschichtlichen Wirklichkeit übereinstimmt. Es deutet sich an, bedarf aber der quellengestützten Bestätigung, dass es festgefügte Gruppen in der Frühphase der Arbeiterjugendbewegung von den Anfängen bis 1918/1919 noch gar nicht gegeben hat. Soweit zu sehen ist, zeigen die erhaltenen schriftlichen Quellen das Bild einer Bewegung, die in starkem Maße durch Versammlungen und Veranstaltungen geprägt war. Diese Versammlungen und Veranstaltungen wurden in der Arbeiterpresse angekündigt, waren öffentlich und wandten sich ganz allgemein an die örtliche Arbeiterjugend. Was die Versammlungen anging, war die klassische Form die des öffentlichen Vortrags, der die Anwesenden informieren und belehren sollte.

Die Veranstaltungen, etwa Ausflüge, Feste und Feiern, waren ebenfalls öffentliche Angebote, bei denen die Zahl der Teilnehmenden sehr groß sein konnte. Einen formal engeren Bezug zur Jugendbewegung gingen die Jungen und Mädchen ein, die zu den Abonnenten der Zeitschrift »Arbeiterjugend« gehörten. Bei den Genossinnen und Genossen, die die örtliche Jugendarbeit trugen, handelte es sich offenbar um jüngere Erwachsene, die in den örtlichen Jugendausschüssen eng mit Partei und Gewerkschaften zusammenarbeiteten. Insgesamt betrachtet stellt sich der Eindruck dar, dass die frühe Arbeiterjugendbewegung die Organisations- und Aktionsformen der SPD aufnahm und für ihre Zwecke verwendete, insbesondere durch eine Konzentration auf öffentliche Aktionsformen. Ob es darüber hinaus auch Arbeiterjugendgruppen im eingangs skizzierten Sinne gegeben hat und in welcher Weise diese Gruppen tätig waren, sollte untersucht werden. In der Weimarer Republik vollzog die Arbeiterjugendbewegung eine Hinwendung zum Erziehungsgedanken und damit auch zur Gruppenarbeit. Besonders ausgeprägt zeigt sich dies im Aufstieg der Kinderfreundebewegung und in den Schriften ihres Leiters und Theoretikers Kurt Löwenstein.

ksplakat grDie Zeltlager und Kinderrepubliken, die die Kinderfreunde durchführten, machen diese Wende besonders deutlich. Es wäre näher zu erforschen, wie sich die normale Gruppenarbeit der Kinderfreunde, die in den Ortsgruppen geleistet wurde, darstellte und inwieweit sie den programmatisch hochgesteckten Ansprüchen der Bewegung gerecht werden konnte. Auch in der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) entwickelte sich in der Weimarer Republik die Tätigkeit von örtlichen Gruppen mit einem eigenen Gruppenleben. Besonders in den ersten Jahren der Weimarer Republik wurde des Öfteren die Klage erhoben, dass manche SAJ-Gruppen vergleichsweise unpolitisch und rein jugendbewegt gewesen seien. Es fragt sich, wie dies zu bewerten ist und ob die noch vorhandenen Quellen hierzu nähere Auskunft geben können. Sicherlich ist zu konstatieren, dass der Bewegung der sozialistischen Jugendlichen eine Persönlichkeit wie Kurt Löwenstein fehlte, die in der Lage gewesen wäre, Formen und Inhalte der Arbeit der SAJ ähnlich verbindlich zu formulieren.

Es wäre spannend, durch künftige Forschungen Näheres über die konkrete Gruppenarbeit der SAJ und deren Entwicklung im Verlauf der Weimarer Republik zu erfahren. Der Erziehungsgedanke in der sozialdemokratischen Arbeiterkinder- und Arbeiterjugendbewegung der Weimarer Republik legt nahe, dass die Gruppe für Kinderfreunde und SAJ nicht nur Form und Methode, sondern in wohlverstandener Weise auch Ziel war. Ziel insofern, da im konkreten Leben der Gruppe sich bereits im Kleinen das entwickeln sollte, was sich später im Großen und Gesellschaftlichen allgemein durchsetzen sollte. In der dritten Phase der Arbeiterjugendbewegung nach Ende des Zweiten Weltkrieges griff die Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken die Idee von der Gruppenarbeit und den mit ihr verbundenen Erziehungsgedanken wieder auf. Zumindest im eigenen Selbstverständnis wurde die Gruppe anscheinend noch stärker als vorher in den Mittelpunkt gerückt. Die Kinder- und Jugendgruppen der bundesrepublikanischen Falken erhielten einen sehr hohen Stellenwert und werden seither geradezu als eigentlicher Kern des Verbandes begriffen, auf den hin die anderen Verbandsaktivitäten ausgerichtet sind.

In dieser Gewichtung liegt möglicherweise ein anderer Akzent im Vergleich zu den Kinderfreunden und der SAJ. So zeigen etwa die Schriften Kurt Löwensteins das Bild einer sozialistischen Erziehungsbewegung, in der die Gruppe zwar wesentlich ist, die Aktivitäten der Bewegung aber weit über Gruppe und Verband hinausgreifen und auch der sozialistische Pädagoge mitten in den aktuellen Kämpfen steht, bei denen der Übergang in den Sozialismus als vergleichsweise nahe und realistische Perspektive aufleuchtet. Zwar kannten die Gruppen der SJD – Die Falken diese Handlungs- und Zukunftsorientierung ebenfalls – erinnert sei an die Aktivitäten des Verbandes für eine internationale Versöhnung und Verständigung sowie gegen die Wiederbewaffnung und eine atomare Hochrüstung – dennoch scheinen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik Selbstverständnis und Praxis der Gruppen in den 1960er-Jahren beeinflusst zu haben.

Der Verband stand in dieser Entwicklungsphase mehr als zuvor in Abhängigkeit zur Sozialdemokratischen Partei, die mit ihrer politischen Wende nach dem Godesberger Programm (1959) die Solidarität des Jugendverbandes erwartete. Das führte im Jugendverband in der ersten Hälfte des folgenden Jahrzehnts zu einer Wende nach innen. Die Jugend- und Protestbewegung seit Ende der 1960er-Jahre beeinflusste die politische und pädagogische Entwicklung der SJD – Die Falken. Die Strömungen innerhalb des Verbandes, die mit Beginn der 1970er-Jahre eine Politisierung und Linkswendung des Verbandes durchsetzen konnten, hielten aber am Konzept der Gruppe als Kernaufgabe fest.

Bestrebungen, den Verband von der Gruppenarbeit stärker auf eine offene Jugendarbeit hin zu orientieren, wurde eine klare Absage erteilt. Formen der offenen Jugendarbeit standen im Verdacht, den Verband durch jugendpflegerische Aktivitäten seiner eigentlichen Aufgabe zu entfremden. Stattdessen galt und gilt bis heute den Falken die fest strukturierte Gruppe als die angemessene Form, Kinder und Jugendliche sozialistisch zu organisieren und in ihrer Entwicklung zu begleiten. Inwieweit diesem selbstgezeichneten Bild des Verbandes allerdings auch eine Realität der Gruppenarbeit entspricht müsste – auch regional differenziert – untersucht werden.


Weitere Anregungen

Innerhalb dieses skizzierten historischen Rahmens gibt es zahlreiche Einzelfragen zu klären, die als Anregungen zu Referaten und Diskussionsgruppen aufgefasst werden können. So müsste im zeitlichen Längsschnitt untersucht werden, welche Faktoren die Gruppe eigentlich zu einer jeweiligen Zeit ausgemacht und geprägt haben und damit der Unterschied zu anderen gesellschaftlichen Formierungen deutlich gemacht werden. Dabei sollte auch über die Gruppe hinausgeblickt und nach den bestimmenden gesellschaftlichen und politischen Faktoren gefragt werden, die das Gruppenleben konstituierten oder verunmöglichten. Dazu gehören Fragen nach dem – eventuell gespannten.


Verhältnis von Individuum und Gruppe

Hierzu gehören eine theoretische Entfaltung des Begriffs des Gruppenprozesses und die Frage nach der Wahrnehmung desselben durch die Mitglieder der Gruppe. Zu fragen ist auch, welche unterschiedlichen Modelle von Gruppe existierten, welche Führungsstile in ihnen geübt, welche Normen in ihnen gesetzt und gelebt wurden. Welche Rolle hatten die Gruppenleiterin und der Gruppenleiter, wie agierten sie pädagogisch und wie wurde ihre Tätigkeit durch die Mitglieder der Gruppe wahrgenommen, wie agierten aber auch die Gruppenmitglieder untereinander? Dazu gehören auch Fragen nach der inneren Differenzierung der Gruppe nach Geschlecht oder übernommenen Funktionen und der Fähigkeit der Gruppe zur Selbstorganisation. Letztlich stellt sich auch die Frage, welche Rückwirkungen auf das Leben der Gruppe die Einbindung in den Verband und die größere Arbeiterbewegung hatte. Wir wollen aber auch überprüfen, ob und inwieweit diese Befunde spezifisch für Gruppen der Arbeiterjugendbewegung sind oder auch bei Gruppen anderer Jugendverbände feststellbar sind. Entsprechend soll es vergleichende Referate und Gesprächsrunden bei der Tagung geben. Ausgehend von der These, dass die Sozialisationswirkungen der Gruppenarbeit bei wertegebundenen Jugendverbänden ähnliche sind, wollen wir auch nach den Auswirkungen der Gruppenerfahrung auf die Biografien ehemaliger Gruppenmitglieder fragen, nach den Auswirkungen für ein späteres soziales und politisches Engagement, und dies auch vergleichend zu anderen Jugendverbänden tun. Wir möchten auf diesem Wege die Leserinnen und Leser, die sich für das Thema interessieren, dazu einladen, sich als Referentinnen oder Referenten einer der oben entfalteten Fragen anzunehmen oder vielleicht zusammen mit ihrer früheren Gruppe über Aspekte des Themas bei unserer Archivtagung 2012 zu berichten.