Am 22. Januar 2001 jährte sich der Todestag Anna Siemsens zum 50. Mal. Wer war diese sozialistische Pädagogin, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebte und wirkte, und über die in den gängigen pädagogischen Nachschlagewerken kaum etwas zu finden ist?

Anna Siemsen wurde am 18. Januar 1882 als zweitälteste Tochter von insgesamt fünf Geschwistern im westfälischen Mark bei Hamm geboren. Ihr Vater war Dorfpfarrer und galt als streng konservativer Protestant. Alle Kinder der Familie Siemsen lernten frühzeitig lesen und wurden schon in jungen Jahren an literarische Werke herangeführt - ein Umstand, von dem sie später profitieren sollte. 1901 erlangte sie das Zeugnis für den Beruf der Lehrerin für Höhere Mädchenschulen, bestand 1905 das Examen (Abitur) und promovierte 1909 in Bonn zur Dr. phil. Sowohl die Promotion als auch den Abschluss des Staatsexamens bestand sie mit Auszeichnung. Bevor Anna Siemsen 1919 als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Unterrichtsministerium in Berlin an den Vorbereitungen der Reichsschulkonferenz mitarbeitete, wirkte sie als Lehrerin in Detmold, Bremen und Düsseldorf.

Im Frühjahr 1920 zog sie als neu gewählte Beigeordnete der Stadt wieder nach Düsseldorf und wirkte dort als Leiterin an einer Reform des Fach- und Berufsschulwesens. Ihren Einsatz für das bis dahin vernachlässigte Berufsschulwesen konnte sie ab 1921 in Berlin als Oberstadtschulrätin intensivieren.

1923 wurde Anna Siemsen ins sozialistisch geführte Ministerium nach Thüringen berufen. Dort war sie damit betraut worden das höhere Schulwesen inklusive der LehrerInnenbildung zu organisieren. Verbunden war diese Stelle mit einer Honorarprofessur an der Universität Jena. Nach dem Einmarsch von Reichswehr-Truppen in Sachsen und Thüringen, einem monatelangen Ausnahmezustand und verordneten Neuwahlen, verlor Anna Siemsen zwar ihre Verwaltungstätigkeit, behielt aber ihre Stellung an der Universität. Eine Reihe ihrer bedeutendsten Werke entstanden in dieser Zeit. Sie wirkte in vielen politischen und pädagogischen Organisationen mit und verfasste zahlreiche Artikel für sozialistische Zeitschriften und Publikationen. Von 1928 bis 1930 war sie, wie später ihr Bruder August (1930-1932) Abgeordnete der SPD im Reichstag.


Exil

Schon vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 war Anna Siemsen widerrechtlich ihrer Professur enthoben worden. Nachdem ihr Bruder August Siemsen eine Morddrohung erhalten hatte, wurde den Geschwistern klar, dass es besser sei, Deutschland zu verlassen, zumal sie nun auch keine Arbeitsmöglichkeiten mehr hatten. Im März 1933 reiste Anna Siemsen in die Schweiz ein. 1934 heiratete sie Walter Vollenweider, den Sekretär der Schweizer Arbeiterjugendbewegung. Damit erhielt sie nicht nur die Schweizer Staatsangehörigkeit, sondern auch eine Arbeitserlaubnis. Auch in ihrem Exil setzte sie sich neben der dortigen Friedensbewegung für die Belange der Arbeiterbewegung ein und versuchte eine Öffentlichkeit zu schaffen gegen den Nationalsozialismus. Sie richtete Kurse für eine LehrerInnenausbildung ein. Im Dezember 1946 kehrte Anna Siemsen nach Deutschland zurück. In Hamburg wurde sie zur Leiterin eines Sonderkurses der LehrerInnenausbildung ernannt. Eine erneute Professur wurde ihr verwehrt, lediglich ein Lehrauftrag für Literatur an der Universität Hamburg wurde ihr übertragen. Daneben setzte sie sich für die Völkerverständigung und die Einigung Europas mittels SchülerInnen- und StudentInnenaustausch ein. Sie bemühte sich um die Aufklärung der Kriegsursachen und war bis zu ihrem Tod am 22. Januar 1951 aktives Mitglied der Friedensbewegung.


Erziehung

Einen Schwerpunkt ihrer Interessen bildete die Erziehung der Jugend. Dass Erziehung und (Aus-)Bildung gleichermaßen für Mädchen und Jungen entscheidend sind, dafür trat Anna Siemsen ein und für dieses Ziel kämpfte sie. Nicht unumstritten war aber zu ihrer Zeit eine weitere Forderung: Frauen und Männer müssten gleichberechtigt und in gleicher Anzahl an der Erziehung und Bildung der Kinder und Jugendlichen teilnehmen. Die Erziehung der Jugend war ihrer Überzeugung nach nicht zu trennen von gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Zusammenhängen. Das hieß für sie, dass Erziehung immer auch politisch sei.

Ihr Verständnis von Erziehung führte sie in Deutschland wie auch in der Schweiz zur Tätigkeit in der Arbeiterjugendbewegung, der Arbeiterbildung und der sozialdemokratischen Bildungsarbeit. Anna Siemsen fand Anerkennung innerhalb der deutschen und internationalen Falkenbewegung, der SPD und weit über die Arbeiterorganisationen hinaus.

Sie engagierte sich parteipolitisch für die SPD - überwiegend für die Sozialdemokraten, müsste man hier besser schreiben. Denn auch in der Politik war sie eine Querdenkerin, die sich nicht der Parteidisziplin unterordnete, was u.a. ihre kürzeren Parteizugehörigkeiten bei der USPD und der SAP aufzeigen.

Obwohl Anna Siemsen zu den herausragendsten sozialistischen PädagogInnen gezählt werden darf, taucht ihr Name in der bürgerlichen pädagogischen Historiographie kaum oder gar nicht auf. Mit ein Grund hierfür ist, dass nach ihrem Tod 1951 kaum eines ihrer Bücher wieder aufgelegt wurde.

1933 waren Mitglieder der KPD, SozialdemokratInnen und SozialistInnen als erste von Repressionen und Verfolgung durch die Nationalsozialisten betroffen. Insbesondere progressive PädagogInnen waren sehr früh Sanktionen ausgesetzt, da die neuen Machthaber für ihre politischen Ziele die deutsche Jugend ganz und gar für sich vereinnahmen wollten. Dabei waren PädagogInnen hinderlich, die mit demokratischen Lehr- und Lernformen arbeiteten und die Kinder und Jugendlichen zu selbstbewussten und selbstverantwortlichen Mitgliedern der Gesellschaft erziehen wollten. Hierzu zählten exponierte PädagogInnen wie z.B. Kurt Löwenstein, Minna Specht, Fritz Karsen und Anna Siemsen, um hier nur einige zu nennen, die schon früh ins Exil gingen. Aber im Gegensatz zu den meisten der emigrierten PädagogInnen wollte Anna Siemsen seit Beginn ihres Exils nach Deutschland zurückkehren, wollte mithelfen am Wiederaufbau dessen, was die Nazis zerstört hatten. Auch sollte die Schaffung eines friedlichen Europas, für das sie sich auch schon während ihres Exils eingesetzt hatte, nach ihrer Rückkehr nach Deutschland ein Arbeitsschwerpunkt werden. Dafür arbeitete sie im Schweizer Exil Konzepte für eine LehrerInnenausbildung aus, die auf demokratischen Grundprinzipien fußten. Ihr wurde früh bewusst, dass Deutschland nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes neue Lehrerinnen und Lehrer brauchen würde, und darauf wollte sie vorbereitet sein.


Vorbereitet – aber auch gebraucht?

In Krisen und Umbruchphasen sah sie Chancen zum Neuanfang und zu Reformen. Nach dem Zusammenbruch 1945 hatte Deutschland die Chance zu einem wirklichen demokratischen Neuanfang, nur wurde sie kaum genutzt. Kritische Personen wie Anna Siemsen waren zu unbequem, als dass man sie zu Rate ziehen wollte. Im Nachkriegsdeutschland wurde es versäumt, ihren Erfahrungen, ihrem Wissen und ihrem Können einen Raum zu schaffen, in dem sie hätte wirken können - einen Raum für Fragen, die am Ende des 20. Jahrhunderts keinesfalls an Aktualität verloren hat. Als Bilanz lassen sich folgende Schwerpunkte erkennen:

Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland galt die NS-Vergangenheit als beendet - sie wurde für beendet erklärt. Aber Macht, Terror, Verfolgung und Ermordung von Millionen Menschen durch die Nationalsozialisten gehören zur Vorgeschichte der neuen Bundesrepublik. Öffentlich wurde die Vergangenheit beendet - im Stillen konnte sie weiterwachsen. Roman Herzog sagte anlässlich des 60. Jahrestages der Novemberpogrome, dass das Vergessen der Vergangenheit eine "intellektuelle Feigheit" sei. Solange man sich mit der Vergangenheit und der Verantwortung für sie nicht auseinandersetzt, sie scheinbar absichtlich ausblendet, liegt die Vermutung nahe, dass dahinter Methode und Absicht stecken. Neben den Verbrechen der Nationalsozialisten wurde aber auch noch etwas anderes vergessen bzw. verdrängt: Es gab neben der auf Hitler und den faschistischen deutschen Staat fixierten Erziehung auch eine andere, antinazistische Pädagogik: im jüdischen Bildungswesen, im Widerstand und im Exil. So bemerkt Wolfgang Keim: "Die Aneignung der demokratischen Weimarer Reformpädagogik und ihrer Fortsetzung im Exil, die Verarbeitung der Erfahrungen jüdischer Kinder und Jugendlicher im damaligen nichtjüdischen und jüdischen Bildungs- und Erziehungswesens wie nicht zuletzt das Nachdenken über Opposition und Widerstand in pädagogischen Kontexten hätten nach 1945 zu anderen Weichenstellungen für Disziplin und Profession führen können."

Hier hätte der Neuanfang für die deutsche Nachkriegspädagogik liegen können und müssen! Es gab Pädagogen und Pädagoginnen - wie das Beispiel Anna Siemsens zeigt -, die bereit waren, daran mitzuarbeiten. Statt dessen erfolgte ein geradezu nahtloser Übergang und die Übernahme selbst schwer belasteter PädagogInnen. Eine Disziplin, die ihre Wurzeln - oder Teile davon - verleugnet, ist nicht nur lückenhaft, sie verliert auch den Bezug zu Teilen ihres Ursprungs. Und dies wirft Fragen auf in bezug auf die heutige Erziehungswissenschaft: Wäre sie in heutiger Zeit gefeit vor einem erneuten Erstarken neofaschistischer Tendenzen, oder würde sie sich wie 1933 zu einem großen Teil anpassen lassen bzw. selbst anpassen? Bildung

Bei den geforderten Reformen des Bildungs- und Erziehungswesens ging es Anna Siemsen, wie sie selber schrieb, "um Durchdringung der alten Lehrpläne mit einem ganz neuen Geist". Ihr Wunsch, am Wiederaufbau des deutschen Erziehungs- und Bildungswesens mitzuhelfen, ging nicht in Erfüllung. Im Vergleich zum Schulsystem der Weimarer Republik ist das heutige tatsächlich durchlässiger, Wechsel zwischen unterschiedlichen Schultypen sind möglich, und das Schulgeld ist abgeschafft bzw. Lehrmittelfreiheit gegeben. Der Blick auf die Sozialstruktur der Gymnasien und Hochschulen dagegen zeigt ein anderes Bild: Kinder aus sozial benachteiligten Schichten sind dort nach wie vor unterrepräsentiert. Eine gute (Aus-)Bildung kostet viel Geld. Auch heute noch - wenn auch nicht so offensichtlich wie zur Zeit Anna Siemsens - spiegeln sich bestehende Machtstrukturen im Bildungswesen wider. Somit behalten die Schriften Anna Siemsens bis heute ihre Gültigkeit.


Frauen

Immer wieder behandelte Anna Siemsen über die Jahre, in denen sie publizierte, Themen über die besondere Stellung und die spezifischen Probleme mit denen Frauen zu kämpfen hatten. Die Erziehungsarbeit war zu ihrer Zeit in den Köpfen der Menschen an die biologische Funktion der Frau gebunden, und aus dieser Sicht wurde auch alles, was mit Kindern, Erziehung und Frauen zusammenhing, bewertet. Anna Siemsen wehrte sich gegen diese einseitige Sicht der Sachlage. Die Frauen des Proletariats lebten größtenteils in menschenunwürdigen Zuständen: Neben der häuslichen Arbeit und den Sorgen und Nöten der Kindererziehung musste die Mehrzahl von ihnen noch einer Erwerbsarbeit nachgehen, da ansonsten das Einkommen ihrer Männer und der älteren Kinder nicht für das Überleben der Familien ausgereicht hätte.

Anna Siemsen machte immer wieder auf den Tatbestand der Doppel- und Dreifachbelastungen der Frauen aufmerksam, auch und gerade, weil bürgerliche Kreise diesen leugneten. Mit dieser Ansicht war sie aber auch innerhalb der eigenen Partei - der SPD - nicht unumstritten, galt der Mehrheit der Sozialisten das 'Frauenproblem' doch als Nebenwiderspruch des Kapitalismus. Frauen ihrer Zeit hatten zu wählen: Entweder einen Ausbildungs- bzw. akademischen Beruf oder Familie. Das Leben Anna Siemsens scheint hierfür das beste Beispiel zu sein. Anna Siemsen war promovierte Lehrerin, sie war in verschiedenen Städten innerhalb der Schulverwaltung tätig und hatte ab 1923 eine Honorarprofessur in Jena. Allein diese Bildungskarriere macht Anna Siemsen zu einer ungewöhnlichen Frau ihrer Zeit, genossen doch damals nur wenige Frauen eine höhere Schulbildung oder promovierten gar. Zu ihrer Zeit studierte eine verschwindend geringe Anzahl der Frauen. Auf höheren Positionen in der Berufswelt waren sie kaum bis gar nicht zu finden. Dass Anna Siemsen eine Professur übertragen wurde, macht sie zur absoluten Ausnahmeerscheinung in der Weimarer Republik.


Frieden und Europa

Gerade in Bezug auf die Entwicklung der europäischen Gemeinschaft hätten PädagogInnen wie Anna Siemsen einen wichtigen Beitrag liefern können. Schon früh setzte sie sich sowohl als Einzelperson wie auch über die verschiedenen Organisationen, in denen sie aktives Mitglied war, für eine europäische Völkerverständigung und Aussöhnung ein, und das schon nach dem Ersten Weltkrieg. Völkerverständigung und Friedenserziehung war bis 1945 nicht Inhalt der staatlichen öffentlichen Erziehung; Militarismus und Chauvinismus nicht erst eine Erfindung der Nationalsozialisten. Eine Friedensbewegung hatte sich in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Staaten erst spät formiert. Und die PädagogInnenschaft des preußisch deutschen Staates hatte "den ersten Weltkrieg nahezu geschlossen mitgetragen, unterstützt und größtenteils auch nach 1918/19 mit ihren politischen Optionen der Vorkriegs- und Kriegszeit grundsätzlich nicht gebrochen". Viele Veröffentlichungen Anna Siemsens setzten dem u.a. in der Schule vermittelten Militarismus etwas anderes gegenüber: Frieden und Verständigung, u.a. durch die Vermittlung des gemeinsamen Schicksals, was das Leben der Arbeiter und besonders der Arbeiterinnen betraf, und durch das Kennenlernen und deshalb Verstehen des Anderen. Dieses Bemühen um Völkerverständigung und Aussöhnung setzte sich fort in ihren Forderungen nach europäischen Akademien für die LehrerInnenausbildung und nach SchülerInnen- und StudentInnenaustausch insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg. Anna Siemsen war also eine der ersten 'wahren' Europäerinnen!

Anna Siemsen sah die gesellschaftliche Entwicklung durchgängig als Prozess, und in Krisenzeiten erkannte sie die Chance zur Veränderung. Ziel war für sie die sozialistische Menschheitsgesellschaft - ohne politische Schranken, ohne Ausbeutung und Unterdrückung:

"Für diese Auffassung hört die Erziehung allerdings auf, eine unbewusste Funktion der gesellschaftlichen Gruppen zu sein, die nur gelegentlich zu bewusstem und schließlich planmäßigem Handeln erhöht wird, sondern sie wird eine bewusst ergriffene Aufgabe, die durch das Zusammenwirken aller gesellschaftlichen Gruppen gelöst werden muss. Durch dieses Zusammenwirken aber ist die Überlieferung planvoll im Sinne der erfassten Zukunftsaufgabe zu gestalten."

von Heike Pestrup