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Anna Siemsen

Pädagogische Ideen entfalten ihre Wirkung in der Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zielen sie auf deren Umgestaltung, bleiben sie nicht nur in den Kontext geistiger und sozialer Bewegungen ihrer Zeit eingebunden, sondern weisen über diesen hinaus und können neue Perspektiven in der Wahrnehmung jeweils aktueller historischer Situationen aufzeigen. Das Werk einzelner Pädagoginnen und Pädagogen, mit seinen biografischen, kultur- und rezeptionsgeschichtlichen Implikationen, eröffnet dabei Selbstverständigungs- und Reflexionsmöglichkeiten im Spannungsfeld von Aktualisierung und Historisierung.

 

Pädagogische und erziehungstheoretische Konzepte nahmen zumal in der Arbeiterbewegung traditionell eine herausragende Stellung ein. Unter den sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Theoretiker(inne)n und Praktiker(inne)n der Pädagogik in der Weimarer Republik, aber auch im Exil und in der Nachkriegszeit kam der pazifistischen Reformpädagogin und Politikerin Anna Siemsen (1882-1951) eine signifikante Rolle zu. Ungeachtet dessen blieb ihr Wirken bis in die jüngste Zeit kaum wissenschaftlich erforscht. Erst vor kurzem fand es u. a. im Rahmen mehrerer Dissertationen ein neues wissenschaftliches Interesse. Vor diesem Hintergrund veranstaltete das Archiv der Arbeiterjugendbewegung in Oer-Erkenschwick, in dem – vielfach verstreut gebliebene – Schriften und Materialien von und zu Anna Siemsen in ihrer Bedeutung für diese Bewegung gesammelt werden, am 28. April 2012 ein Anna-Siemsen-Symposion. Ziel der Tagung war es, unterschiedliche Facetten und Aspekte im Leben und Werk von Anna Siemsen zu beleuchten und auf ihre Relevanz für die aktuelle Beschäftigung mit pädagogischen Konzepten zu reflektieren. Moderiert wurde das Symposion, an dem auch Angehörige der Siemsen-Familie, u. a. aus Lateinamerika, teilgenommen haben, vom Leiter des Archivs Alexander Schwitanski.

Im Eröffnungsreferat der Tagung stellte Manuela Jungbluth (Paderborn) die Ergebnisse ihrer Dissertation über Anna Siemsen als demokratisch-sozialistische Reformpädagogin vor. Siemsens Biografie erschien dabei als Verdeutlichung des dialektischen Verhältnisses von Erziehung und Gesellschaft, von Theorie und Praxis. Aber auch im Hinblick auf ihr pädagogisches Konzept wurde die Bedeutung des (humanistisch-sozialistischen) Menschenbildes bei Siemsen deutlich. Wie die Referentin herausgearbeitet hat, bildete das Ziel der Erziehung in Siemsens Pädagogik ein selbstbestimmtes Subjekt, das dazu befähigt werden sollte, gesellschaftliche Verhältnisse zu erkennen und sie im Sinne der Solidarität umzugestalten. Diese Zielsetzung sollte durch die äußere und innere Schulreform sowie durch eine Reform der Lehrerbildung verfolgt werden. Die Diskussion zum Referat zeigte u. a., dass die Auseinandersetzung mit der stalinistischen Pädagogik im Werk von Anna Siemsen eher randständig blieb und dass das Letztere in einem breiteren Zusammenhang der sozialistischen Reformpädagogik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem im Hinblick auf dessen Stellung darin, untersucht werden müsste.

Till Kössler, Professor für Sozialgeschichte des Aufwachsens und der Erziehung an der Ruhr-Universität Bochum, skizzierte in seinem Referat Ziele und Perspektiven einer historischen Beschäftigung mit Pädagogen, die vor allem eine Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem leisten sollte. Während in der älteren Forschung pädagogische Konzepte vorwiegend an Personen geknüpft waren und hinter diesen Konzepten die praktische Wirkung von Pädagoginnen und Pädagogen vernachlässigt wurde, gilt es, einerseits Erziehungspraxis und Erziehungsreflexion zu vermitteln und andererseits Pädagogen außerhalb von vielbeachteten Strömungen und Richtungen zu berücksichtigen. Im Hinblick darauf zeigte Kössler neue Themenfelder auf, die, wie beispielsweise die Geschichte der Professionalisierung und der Bildungsplanung, die Verbindung der Pädagogik- und Erziehungsgeschichte mit der Geschichte der Humanwissenschaften, das Aufkommen und die Entwicklung der kritischen Erziehungswissenschaft der 1960er und 70er Jahre oder die Rolle der Pädagogen als kulturelle und mediale Gestalten, deren Verstrickung in die Geschichte der Moderne zu einem Mittelpunkt der historisch-pädagogischen Forschung machen könnten. Die zum Teil kontroverse Diskussion des Referats bewegte sich um die Fragen der historisch-kulturellen Eingrenzung der Jugendphase, die Rolle religiöser Motivationen in der Geschichte der Pädagogik oder etwa die „Emanzipation“ der Pädagogen von der Philosophie und machte die Notwendigkeit einer Internationalisierung und kulturellen Erweiterung historisch-pädagogischer Fragestellungen deutlich.

In dem Referat von Alexandra Bauer (Hamburg) standen Probleme im Vordergrund, mit denen Anna Siemsen in der Nachkriegszeit nach ihrer Rückkehr aus der Emigration in der Hansestadt konfrontiert war. So erfuhr sie eine dreifache Benachteiligung – als Frau, Sozialistin und Remigrantin –, stieß auf Schwierigkeiten bei der Wiedereinbürgerung und auf eine ablehnende Haltung der pädagogischen Fakultät der Universität bei ihren Bemühungen um eine Lehrtätigkeit. Wie Bauer gezeigt hat, stand das Schicksal Siemsens, die einen Primat der Politik vor der Pädagogik nicht akzeptierte und aktiv am Demokratisierungsprozess Westdeutschlands teilnahm, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges stellvertretend für viele demokratische und sozialistische Remigrant(inne)n.

Der Wuppertaler Pädagoge Christian Sänger referierte über die Stellung und Bedeutung von Bildung und Literatur im Werk Anna Siemsens. Dabei wurde deutlich, dass Siemsen in der Tradition der sozialistischen Literaturkritik vor allem für eine Kampfliteratur eintrat, die im Gegensatz zur Unterhaltungs- und Ablenkungsliteratur eine Bildungs- und politische Funktion erfüllen sollte. Kritischen Dichtern fiel in diesem Kontext eine Brückenrolle zwischen Intellektuellen und Massen zu. Die Notwendigkeit einer intensiven Bildung(sarbeit) ergab sich für Siemsen dabei auch aus Defiziten einer extensiven Massenagitation. In der Diskussion des Referats wurde u. a. die Rolle Anna Siemsens als Vermittlerin der klassischen und humanistischen Literatur in der Arbeiterbewegung betont, aber auch ihre Auffassung der Aufgaben der Literatur im Sinne einer (kritischen) Realitätsabbildung problematisiert.

Die Beiträge von Francesca Lacaita von der Universität St. Andrews (Großbritannien) und Marleen von Bargen (Universität Hamburg) widmeten sich den europäischen Dimensionen in Siemsens Denken. Lacaita zeigte, dass Siemsens originelle Konzeption des europäischen Föderalismus, die auf der Koexistenz differenter Subjekte basierte, eine zentrale Relevanz für die Genealogie der europäischen Idee besaß. Der Föderalismus wurde dabei nicht institutionalistisch verstanden, seine Subjekte stellten für Siemsen nicht die Staaten, sondern die Völker dar. Ein solidarisches Europa bildete im Hinblick darauf eine wichtige strukturelle Voraussetzung des demokratischen Sozialismus. In der Schweiz mit deren Betonung der Diversität, politischen Partizipation und Koexistenzmöglichkeit unterschiedlicher nationaler und kultureller Momente sah Siemsen ein Modell für eine europäische Föderation.

Wie von Bargen basierend auf der Unterscheidung zwischen „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ veranschaulichte, wurde Europa bei Siemsen zudem nicht geografisch, sondern gesellschaftlich-kulturell definiert. Als Gegenmodell zum nationalstaatlichen Rahmen stellte eine europäische Gesellschaft den Ausgangspunkt einer Entwicklung hin zu einer herrschafts-, gewalt- und zwanglosen Gemeinschaft dar und der demokratische Sozialismus erschien als kultureller Kern Europas. Die Diskussion der Beiträge brachte dabei zum Ausdruck, dass die Begrifflichkeiten der 1920er Jahre bei Siemsen zum Teil eine neue Füllung erfuhren und dass ihre Vorstellung von der europäischen Einheit in der Mannigfaltigkeit einen Schutz vor dem Doktrinarismus bieten konnte.

Abschließend fasste Wolfgang Keim, emeritierter Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Paderborn, die Bedeutung Anna Siemsens in der Erziehungswissenschaft zusammen und skizzierte mögliche Aspekte von Siemsens Aktualität. Diese Bedeutung, wie es auch die anderen Referate der Tagung zum Ausdruck gebracht haben, bestand neben dem gewissermaßen exemplarischen Charakter ihrer Biografie nicht zuletzt darin, dass ihr Werk eine Alternative zur geisteswissenschaftlich orientierten Reformpädagogik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildete. Auch Siemsens Konzepte im Umfeld der Friedenspädagogik stellten einen originellen Beitrag zur Entwicklung der Erziehungswissenschaften, zumal in ihrem Bezug zu sozialen Bewegungen dar. In diesem Kontext gewann das praktische Wirken Anna Siemsens eine besondere Bedeutung, das in engem Zusammenhang mit der theoretischen Problemanalyse stand. Zu den weiteren wesentlichen Punkten, in denen die herausragende Stellung und Aktualität Siemsens als demokratisch-sozialistische Reformpädagogin begründet lag, gehörten, wie Keim verdeutlichte, auch deren Nähe zum Austromarxismus und zu neukantianischen philosophisch-pädagogischen Ansätzen. Dadurch unterschied sie sich deutlich von vulgär-marxistischen Auffassungen und erkannte den menschlichen Willen als einen gewichtigen Entwicklungsfaktor an.

Die Tagung im Ganzen hat gezeigt, dass die Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk von Anna Siemsen bedeutende Potenziale in sich birgt. Dabei sind interdisziplinäre Zugänge erforderlich, um nicht nur die verschiedenen Aspekte und Facetten von Siemsens Wirken aus jeweiligen Perspektiven zu erfassen, sondern um es auch als Teil übergreifender geschichtlicher Prozesse erscheinen zu lassen. Vor allem die Verortung Anna Siemsens in den philosophischen und pädagogischen Traditionen wie auch in den Traditionen der Arbeiter(jugend)bewegung bietet dabei eine Grundlage für weitere Forschungen und Analysen im Zusammenhang mit der historischen Entwicklung der sozialistisch orientierten Jugendorganisationen und der Reformpädagogik, zu denen die Tagung und der geplante Tagungsband wichtige Anstöße geben können.

Darüber hinaus wurden auf dem Symposion auch Problemzusammenhänge berührt, die wichtige Anknüpfungspunkte etwa für sozialisationshistorische und -theoretische Untersuchungen bieten. So stellte bereits die Biografie Anna Siemsens, mit ihrem bildungsbürgerlichen Hintergrund und ihrer Herkunft aus einem protestantischen Pfarrhaus, ein bezeichnendes Beispiel für das Zusammenspiel vielfältiger sozialisatorischer Prägungen und komplexe Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Einflussfaktoren in der Entwicklung theoretischer Ansätze und lebensgeschichtlicher Praxis dar. Eine Fortführung und Integration solcher interdisziplinär ausgerichteten Zugänge zur Geschichte der Erziehungswissenschaften wie der sozialen Bewegungen können einen wesentlichen Beitrag zur Erweiterung und Vertiefung des Erkenntnisstandes auf diesen Gebieten leisten.


 

Bericht von: Dimitrij Owetschkin, Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum

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